(English translation here)
Es braucht keinen Grund, nach Sunny Beach zu fahren. Bereits der Name des Ortes klingt so simpel, dass die Frage nach dem „Warum?“ unangemessen scheint.
Manche Territorien müssen durchquert werden.
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Früher, in meiner Kindheit, machten sich die Familien einmal im Jahr am Sommeranfang mit ihren Autos auf den Weg. Sie bewegten sich dabei nur langsam, weil die Autobahnen noch nicht ausgebaut waren und ihre Autos mit Gas fuhren. Einen ganzen Tag lang sah man die Felder vorbeistreichen, die Berge und die kleinen Städte sah man nur aus der Ferne.
Als Kind fragt man sich nicht, warum die Industrie ausbleibt, wieso die Städte immer leerer werden, wieso einem die Felder irgendwie öde vorkommen und was die verblichene Werbung am Straßenrand bedeutet. Auch fragte man nicht, was die Menschen, die Pfirsiche, Melonen oder Tomaten verkaufen, sonst so machen. Dieser eine Tag ist viel zu lang dafür, viel zu zäh. Bei der Dämmerung der erste sein, der das Meer sieht, nur darauf kam es an.
Jetzt verstehe ich, warum mich auf dieser Reise die Wehmut ergreift.
Jetzt verstehe ich auch, dass dieser Reise uns an Orten vorbei führt, die dieselben geblieben sind. Sie sind nur älter geworden, genau so alt wie die Gebäude, Straßen und Menschen, die schon immer dazu gehörten und die nie fortgegangen sind. Eine Art von Anwesenheit, die man als Abwesenheit von Gegenwart beschreiben kann. Es war einmal, es ist einmal.
Die Wehmut setzt dann ein, wenn wir versuchen, uns wieder anzunähern – der Welt, und auch uns selbst. Und es ist nicht mehr ein besonderer Ort oder die Kindheit, um die es geht. Es ist vielmehr der Wunsch, zu verstehen, dazuzugehören, da zu sein, dabei zu sein.
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Das hier ist ein Land der Unbestimmtheit.
Die Historikerin Maria Todorova hat mit dem Begriff „Balkanismus“ zu zeigen versucht, dass die kulturellen Konnotationen, die in der Moderne mit Südosteuropa verbunden werden, keinem Diskurs über Differenzen entspringen – wie etwa der Diskurs über den Orientalismus, der auch hierarchische Verhältnisse zwischen Orient und Okzident enthält. „Balkanismus“ bezeichne hingegen einen Diskurs über Ambivalenzen, in dem der Balkan gewissermaßen als komplementäre Hälfte seiner selbst konstruiert wird: als ein „unvollkommenen Eigenes“, und gerade nicht als ein „Anderes“.
Ein Land oder eine Gemeinschaft im Übergang, voller Komplexität und in Mehrdeutigkeit verhaftet, eines, das keine endgültige Identität finden kann, das durch keine positiven Klischees über Eigenschaften, Charaktere oder Präsenzen erheitert werden kann. Ein schwarzes Loch, das nur durch eine „Was-fehlt“-Rhetorik gefüllt wird.
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Das leere Innere des Landes verschwindet dann langsam im Rückspiegel. Direkt in die Felder gesetzt, tauchen nun leerstehende, manchmal gar unfertige Ferienhäuser auf. Zumeist sind sie schlicht konstruiert, anspruchslos, ja gedankenlos und absurd, denn viele Kilometer trennen sie von der Küste. An manchen kleben schrille Werbeschilder, „Ihre Traumimmobilie“ ist etwa zu lesen. Die Häuser wirken jedoch eher unbeholfen neben den trockenen Palmen, die sich vor etwas zu pompösen Portalen im Wind wiegen. Die Villen wurden vor einigen Jahren während des Immobilienbooms gebaut, um an Russen, Deutsche und Engländer verkauft zu werden. Gekauft hat sie niemand.
Und dann die Hotels – zunächst mit trostlosen Fassaden in bunten Farben, später erdrückend groß. Man fährt ins Zentrum, die Menschenmassen verdichten und verlangsamen sich. Große Leuchtschilder vor kleinen 24-Stunden-Läden, dann Geschäfte mit hunderten übereinander gehängten Artikeln. Straßen wie Supermarktregale – zwanghaft spaßig, sprunghaft, schrill. Parallel zum Meer: Die Hauptstraße, wo nachts alles in Ekstase schwingt, die sich tagsüber den erschöpften, von der Hitze erschlagenen Körpern ergibt.
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Nach einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs zwischen 2000 und 2008, die auf die hyperinflationäre Übergangsperiode der 1990er Jahre folgte, schlitterte Bulgarien nach dem Konjunktureinbruch 2009 in die Krise. Die ausländischen Investoren, die bis 2008 viel ausländisches Kapital in Bulgarien zufließen ließen, sind weggezogen. Die EU-Gelder verschwinden in Korruptionschemen. Das Risiko der Deflation droht.
So bleibt Bulgarien das ärmste EU-Land.
In Branchenmedien, in denen sich die mächtigsten Wirtschaftsunternehmen präsentieren, ist immerhin zu lesen, dass die Wirtschaftsführer optimistisch blieben. Angeführt wird die bulgarische Rangliste mit den profitabelsten Unternehmen von dem russischen Energiegiganten „Lukoil“, dessen Raffinerie unweit von Sunny Beach liegt. Die deutsche Handelskette „Kaufland“ belegt den fünften Platz. Zu den neuesten Aufsteigern zählt „Express Logistik und Distribution“, die Firma vertreibt Zigaretten, Zeitungen und Getränke; hinter ihr steht der höchst umstrittene Delian Peevski, dem zugleich die größte Lotterie des Landes gehört.
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“Sunny Beach caters for every desire and during the summer months this modern resort never sleeps.”
Der Wachstum von Sunny Beach stammt aus den Nullerjahren, als der Ort von Bauunternehmern, der Tourismus- und Unterhaltungsindustrie in einen Ort der Masse und der Lust verwandelt wurde. 800 Hotels, in denen 200 000 Menschen untergebracht werden können. Vor paar Jahren drehte BBC die Sendung „Booze, Bar Crawls and Bulgaria: Stacey Dooley investigates“, in der es um Alkohol- und Drogenexzesse, wahllosen Sex und diverse Arten von Betrug geht.
Die Bühne der Verführung: nichtssagende Architektur, bestückt von leuchtenden, zweidimensionalen Zeichen. Hier sind Erfahrung, Materialität und Information nur noch Oberflächen. „Architektonische Monumentalität und weitere Räume des architektonischen Nichts“, wie Scott Brown und Venturi in „Learning from Las Vegas“ eine Stadt erklären, in der die Logik des Kommerz alles beherrscht und das Streben nach Lust ins Zentrum des Kapitalismus gestellt wird.
Auch Sunny Beach ist ein solcher Ort; hier findet man all-inklusive-Hotels, in denen letztlich alles versprochen wird, nicht nur physische Bedürfnisse, jegliche Sehnsüchte, werden für Geld erfüllt.
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Über Lust und Exzess einer postkommunistischen Bevölkerung schreibt der Philosoph Boyan Manchev. Es gehe nicht nur um eine wirtschaftliche, sondern auch um eine politische Krise, die auf 1989 und die fehlende Konstituierung von Staatsgewalt zurückzuführen sei. Manchev beschreibt, wie die postkommunistische Bevölkerung zu einer formlosen Menge degradiert worden sei. Das Volk sei das Nicht-Verwirklichte in der Struktur eines neuen Staates. Während der Wende im Jahr 1989 und danach habe es an einer konstituierenden Gewalt gefehlt, die in eine konstituierte hätte übergehen müssen. Damals sei die Grenze zwischen dem Triumph und der Gewalt nicht klar gezogen worden. Das Volk bleibe seitdem ebenso ekstatisch wie exzessiv, denn es wende sich immer wieder (regressiv) dem Moment der nicht statt gefundenen Gründung zu. Der „Körper“ des Volkes ist durch und durch politisch, doch es erfährt das Politische lediglich als Lust. Der „totale Körper der Lust“, so bezeichnet Manchev das Politische in Bulgarien.
In seinem Essay zieht Manchev außerdem eine Parallele zur Marktwirtschaft, die auch auf der Erzeugung von Lust basiere. Anders als die Marktwirtschaft in den westlichen Demokratien, in der es um den Austausch, den Gewinn und die Akkumulation von Waren gehe, gründe sich die Ökonomie im Südosten Europas auf eine nicht marktkonforme, sinnlose Verschwendung, die genauso wie die postkommunistische Lust auf dem Exzess basiere.
Gerade in einem Land wie Bulgarien kommen paradoxerweise die finstersten Kräfte des Marktes zum Vorschein, es geht nicht mehr um Austausch, sondern um die unkontrollierte Ausübung von Gewalt und Macht. Ich denke an die „Chalga“, den Popfolk, das am meisten verbreitete Musikgenre hier im Lande, in dem es ausschließlich um Liebe, Sex, Konsum und Kriminalität geht. Die Musik, von verträumt-romantisch bis vulgär-zynisch, mixt Sehnsüchte unterschiedlicher Herkunft, um diese in gedächtnisloser Ekstase aufzulösen.
Sunny Beach ist die modellhafte Verwirklichung genau dieser exzessiven Ökonomie der Lust – die außerdem jegliche nationale Grenzen überschreitet.
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Doch auch wir sind in Sunny Beach.
Nachts verlieren wir uns dann erneut in den Bars der Hauptstraße. Wir trinken und tanzen. Manche stürzen sich in die schwarzen Fluten, schwimmen, andere liegen im Sand. Wir umarmen uns, dann lachen wir, dann weinen wir zusammen.
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In seinem jüngsten Roman „Die Physik der Schwermut“ bezeichnet Georgi Gospodinov Bulgarien als „das traurigste Land der Welt“. Die Melancholie sei vor allem dem Umstand geschuldet, dass die Menschen, die dort leben, unaufhörlich auf ihre nicht gelebten Leben blicken müssten. Eine Sehnsuchtslandschaft, aus der Ratlosigkeit geboren.
Ein Land der Unbestimmtheit, der Lust und der Melancholie.
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Auf dem Boden eines Waschsalons in Frankfurt liegt eine Stofffigur wie ein verzerrter Schatten, mit zu langen Gliedern, zu schläfrig, unförmig, plump. Eine Erzählung begleitet sie – von Berührung und verkörperten Gefühlen. Und eine Sehnsucht bestimmt sie, nach einem Ort der Liebe und Zuneigung.
Eine pathetische Sache, in einem Waschsalon gewiss unangemessen emotional. Eigentlich peinlich.
Eigentlich lustig. In einem Hotel in Sunny Beach gibt es zudem aufgestockte Keramikvasen, die an Menschen erinnern – etwas träge und ein wenig verloren. Irgendwie plump, aber lieb. Zurückgezogen, doch ganz da.
Dann hörte ich jemanden fragen: Woher kommen sie eigentlich?
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Frankfurt scheint die Erfüllung des Wunsches nach Stabilität zu stillen. Jährlich kommen tausende Menschen in die Stadt, um in hoch dotierten Jobs zu arbeiten, die ein erfülltes Leben versprechen.
Doch Frankfurt wird auch durch Glätte charakterisiert. Nicht nur die Glätte der Smartphones, sondern vor allem diejenige der spiegelnden Fassaden der Banken und Unternehmen. Glatt ist die Ökonomie auch, weil sie nicht erlaubt, dass eine physische Wirklichkeit entsteht. Es ist die Abstraktion, sie erst schafft den Kapitalismus, der alles einem virtuellen Geldwert angleicht. Franco „Bifo“ Berardi spricht von einer „finanziellen Abstraktion“, die den „Dark Pools“ gleiche. Er bezieht sich auf das gleichnamige Buch des Journalisten Scott Patterson, der über die extreme Beschleunigung der globalen Märkte schreibt: „Value no longer emerges from a physical relationship between work and things, but rather from infinite self-replication of virtual exchanges of nothing with nothing, whose outcome is more money“.
Vielleicht gibt es doch Ähnlichkeiten zwischen Frankfurt und in Sunny Beach. Beide sinnentleert, beide sehnsüchtig. Und beide nicht gegenwärtig, denn beide Orten stützen sich auf Fiktionen.
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Ich muss noch einmal an den Popfolk denken. Vor kurzem lud der Choreograph und Performer Ivo Dimchev Sashka Vaseva ein, eine der bekanntesten Popfolk-Sängerinnen, die schon in den 1990er Jahren zu Ruhm gekommen war. Sie führte nun ihre Songs als Opernarien auf. Das Populäre war zu grotesk sentimental, doch wirkte die Transformation geradezu subversiv.
War es nicht die diese Übertreibung, die zeigte, dass auch scheinbar billige Emotionen sinnstiftend sein können? Konnten wir uns nicht in jenem Saal an jenem Abend zum ersten Mal durch die ausgelöste Empathie verständigen?
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Und dann verschwand alles auf einmal. Man hatte es vorausgesehen, ganz sicher hatte es jedoch niemand gewusst. Wir nehmen nichts mit zurück, außer Sand: in den Schuhen, in den Haaren.
Dort auf dem Dach sind es diese verunsicherten, verlorenen, verorteten Subjekte, die zwischen Traum und Traumata schweben. Das Unbewusste, voller Bruchstücke und Lichter, die die Wehmut hervorrufen. Man denkt, dies sei nicht etwas, das erst noch kommen würde, sondern das schon die ganze Zeit existiert hätte.
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Es gibt keinen Grund, nach Sunny Beach zu fahren. Aber wir kämpfen um die Imagination – das umstrittenste und zugleich politischste Feld.
In den instabilen Verhältnissen zwischen den Realitäten finden wir einige Antworten.
* Der Text bezieht sich auf Werke von Dardan Zhegrova, Anna Zacharoff, Tore Wallert und Max Brand.
Literaturhinweise
Franco „Bifo“ Berardi, And. Phenomenology of the End, 2015
Dennis Scott Brown und Robert Venturi, Learing from Las Vegas, 1979
Georgi Gospodinov, Physik der Schwermut, 2014
Boyan Manchev, Der totale Körper der Lust. Postkommunistische Gemeinschaft – Repräsentation und Exzess, in: Zurück aus der Zukunft, hr. von Anne von der Heiden und Peter Weibel, 2005, S. 88-130
Maria Todorova, Imagining the Balkans, 1997
Der Text erscheint im Rahmen des Ausstellungsprojekts “States of Flux” (28. August – 16. Oktober 2016), kuratiert von Viktoria Draganova und Gergana Todorova und veranstaltet von Swimming Pool, Sofia. Die Textreihe wird von Goethe-Institut Sofia gefördert.